MITTWOCH, 9.10 UHR

Die Meldung traf um zehn nach neun bei Harms ein, der sofort Henning und Santos informierte. »Zwei männliche Tote wurden auf dem Gelände der Spedition Drexler in Suchsdorf gefunden. Einem Mitarbeiter der Spedition war aufgefallen, dass ein Lkw an einer ungewöhnlichen Stelle stand. Er hat erst einen Blick in die Fahrerkabine geworfen, die leer war, dann entdeckte er Blut sowohl in der Kabine als auch auf dem Boden neben dem Auto. Dazu kommt, dass der Wagen vom Big Boss, ein Mercedes 500, neben dem Lkw parkte, der Chef selbst aber nicht in seinem Büro war. Er hat schließlich die Ladefläche des Lkw aufgemacht und die beiden Leichen gefunden. Mehr weiß ich noch nicht. Macht euch auf die Socken, bevor Kollegen aus anderen Dienststellen dort sind, die wir lieber nicht dort haben wollen. Sammelt sämtliche Informationen, deren ihr habhaft werden könnt, und besprecht sie mit mir. Nur und ausschließlich mit mir.« »Wir sind schon weg. Was ist mit der Spusi?« »Die werde ich wohl oder übel informieren müssen. Ich ruf gleich Tönnies an.«

»Kannst du vergessen, der ist krankgeschrieben und liegt im Bett.«


»Woher wisst ihr das?«

»Er wollte sich gestern Nachmittag mit uns im Hauptbahnhof treffen.«

»Um fünf? Habt ihr mir nicht gesagt, dass ihr zu Frau Bruhns fahren wolltet?«, fragte Harms mit hochgezogenen Brauen.

»'tschuldigung, wir wollten dich gestern nicht damit belasten, du standst so schon ziemlich unter Strom und ...« »Und was?«

»Mann, Volker«, mischte sich Henning ein und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch, »du warst gestern fix und alle, das haben Lisa und ich doch bemerkt. Oder glaubst du, wir sind taub und blind? Nur deswegen haben wir dir das mit Tönnies verschwiegen. Okay?« »Schon gut«, sagte Harms leise und mit einem kaum merklichen Nicken. »Und was ist bei dem Treffen rausgekommen?«

»Gar nichts, denn er ist nicht aufgetaucht. Wir haben gewartet und gewartet, und als er auch um sechs noch nicht da war und wir ihn weder in seiner Abteilung noch auf seinem Handy erreichten, haben wir bei ihm zu Hause angerufen. Angeblich hat er Herzbeschwerden und liegt flach.«

»Wieso angeblich?«

»Wir glauben, er hat Angst und sich einen gelben Urlaubsschein besorgt, bis wieder Ruhe eingekehrt ist.« »Wovor soll er Angst haben?«

»Mein Gott, Volker, Tönnies war der Erste, der am Sonntag die DNA der unbekannten weiblichen Person isoliert hat. Irgendjemand muss das rausgekriegt und mächtig Druck auf ihn ausgeübt haben, denn Günter ist normalerweise keiner, der sofort kuscht. Jürgens hat auch Angst und will mit uns nichts mehr zu tun haben. Das Seltsame ist, dass wir bis jetzt noch keinen direkten Druck bekommen haben. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.« »Wir sprechen später noch mal darüber, haut jetzt ab. Und ruft mich sofort an, wenn ihr erste Erkenntnisse habt.«

»Kein Thema.«

 

Während sie vom Hof rasten, sagte Santos: »Irr ich mich, oder ist Volker heute anders drauf als in den letzten Tagen?«

»Du irrst dich nicht«, antwortete Henning lapidar, den Blick stur auf die Straße gerichtet. Er dachte nach, doch er ließ Santos nicht an seinen Gedanken teilhaben. Nach fünf Minuten wurde es ihr zu still, sie war aufgedreht, ohne sagen zu können, warum. Sie spürte eine Spannung in sich, als würde sie sich auf einen Karate-Wettkampf vorbereiten. Ihr letzter Kampf lag schon fast ein Jahr zurück, und es wurde Zeit, wieder an einem teilzunehmen. Außerdem musste sie dringend mal wieder zum Schießstand, die letzten beiden Termine hatte sie versäumt. »Erst Bruhns und die Steinbauer und nur drei Tage später zwei Tote in einem Lkw. Bisschen viel für unser beschauliches Städtchen.« »Hm.«

»Deine Großmutter hat vorhin angerufen.« »Hm.«

»Und das Präsidium ist in die Luft gesprengt worden.« »Hm.«

»Zum Standesamt geht es da lang.« »Hm.«

»Sag mal, Sören, hörst du mir eigentlich zu? Woran denkst du?«

»Was?«

»Hey, was geht in deinem Kopf vor? Hallo, ich bin's, Lisa.«

»'tschuldigung, bin ein bisschen durcheinander.« »Das ist unverkennbar. Woran denkst du?« »Keine Ahnung.«

»Doch, du hast eine Ahnung, willst sie aber für dich behalten. Okay, behalt's für dich«, sagte Santos und tat beleidigt.

»Quatsch. Ich frage mich, was in Kiel abgeht. Bruhns und die Steinbauer, jetzt zwei Tote in einem Lkw. Was wiederum bedeuten könnte, dass das noch nicht das Ende der Fahnenstange ist. Wer bekriegt hier wen?« »Und wenn es sich nicht um einen Krieg handelt?« »Worum dann?«

»Krieg hört sich gleich so an, als würden rivalisierende Banden gegeneinander kämpfen. Aber wie passen Bruhns und seine kleine Geliebte in das Bild? OK? Nee, Jugendgangs bekriegen sich untereinander, die würden niemals an einen Bruhns rankommen. Ich frage mich die ganze Zeit, warum er nicht wenigstens einen Bodyguard in Schönberg hatte. Hat der sich so sicher gefühlt?« »Wahrscheinlich, hier bei uns ist die Welt schließlich noch in Ordnung, oder?«, erwiderte Henning grinsend. »Klose müsste wissen, ob im organisierten Bereich was los ist, da würde ich Bruhns eher plazieren.« »Und die Steinbauer auch?«

»Möglich, denn irgendwoher muss sie ja die Kohle haben. Achtzehn, kaum aus dem Waisenhaus und gleich Millionärin. Da ist doch was faul.« »Wir sind gleich da und reden nur das Nötigste, okay?« »Nichts anderes hatte ich vor.«

»Nehmen wir an, die OK mischt Kiel und Umgebung auf ...«

»Dann verwette ich mein Jahresgehalt oder zumindest das, was übrig bleibt, dass Rüter oder irgendein anderer Idiot uns die Sache aus der Hand nimmt und dem LKA übergibt.«

»Sei vorsichtig mit deinen Wetten, lieber Sören, du könntest verlieren.«

»Ist doch nur ein Spruch. Volker hat ganz schön Dampf gemacht, so kenn ich ihn gar nicht.« »Erinnere dich mal an die letzten Jahre, wie oft er uns den Rücken freigehalten hat und die eine oder andere Lüge ... Wir haben ihm viel zu verdanken.« »In anderen Abteilungen wird auch gelogen. Wenn ich Rüter nur sehe, der ist eine wandelnde Lüge. Der biegt sich alles so zurecht, dass es passt. Was nicht passt, wird passend gemacht, heißt es doch so schön.« »Lass uns für den Moment Rüter mal vergessen und uns auf den Fall konzentrieren. Was in ein paar Stunden sein wird, sollte uns jetzt nicht interessieren.« Henning sah schon von weitem die drei Streifenwagen auf dem Gelände und mehrere Trucks unterschiedlicher Größe. Sie bogen auf den riesigen Hof der Spedition ein, Beamte hatten den Bereich um einen 7,5-Tonner und einen dunkelblauen Mercedes 500 abgeriegelt. Sie stiegen aus, gingen auf die Beamten zu und wiesen sich aus.

»Irgendwas angefasst?«, fragte Henning. »Nein.«

»Okay, wer hat die Leichen gefunden?« »Ich.« Der ältere Mann trug eine blaue Latzhose, darunter ein blaukariertes Holzfällerhemd und Arbeiterschuhe.

»Bleiben Sie bitte hier, wir sind gleich bei Ihnen, wir wollen uns nur einen ersten Überblick verschaffen.«

Die Hecktür des Lkw stand weit offen, eine Schleifspur aus Blut zog sich über mehrere Meter von der Fahrerkabine über den Asphalt. Vor dem Heck war eine etwas größere Blutlache, Blutspuren am Lkw. Henning und Santos machten Fotos mit ihren Handys und betrachteten die Toten, die so hingelegt worden waren, dass die Einschusslöcher genau zu erkennen waren, ohne dass Henning oder Santos die Ladefläche hätten betreten müssen.

»Das war eine Hinrichtung erster Klasse. Wer die umgelegt hat, versteht was von seinem Handwerk. Bruhns, Steinbauer und jetzt die beiden.« Henning ging so dicht heran, wie er konnte, ohne etwas zu berühren, und fuhr fort: »Der Linke ist etwa fünfundzwanzig Jahre alt, der andere um die dreißig, vielleicht auch ein wenig älter. Je ein Schuss in Kopf und Brust, mehr kann ich nicht erkennen, ich nehme aber an, mehr brauchte der Schütze auch nicht. Was auffällt, ist, dass der Linke von vorne und der Rechte von der Seite getroffen wurde. Das lässt darauf schließen, dass er der Fahrer des Lkw war. Was meinst du?« Henning sah Santos fragend an. »Könnte hinhauen. Mach noch ein paar Fotos von den beiden.«

Sie wandte sich ab und ging zu dem Mann, der die Leichen entdeckt hatte.

»Mein Name ist Santos, Mordkommission. Wann genau haben Sie bemerkt, dass hier etwas nicht stimmt?« »Das war schon, als ich um sechs gekommen bin, um den ersten Lkw zu beladen. Meine Kollegen und ich haben uns gewundert, dass der Wagen vom Chef hier steht. Normalerweise kommt der nie vor zehn oder elf in die Firma. Wir haben unsere Arbeit gemacht und wollten gerade frühstücken, da bin ich mal runter und habe erst dann bemerkt, dass der Lkw nicht an der üblichen Stelle geparkt war. Der steht sonst dort hinten und wird nur für Transporte in und um Kiel verwendet, ist ja auch nur 'n 7,5-Tonner. Ich habe die Fahrertür aufgemacht, die war unverschlossen, was mich noch mehr gewundert hat, dann habe ich einen Blick hinten rein riskiert. Da habe ich die beiden dann gesehen.« »Kennen Sie die Toten?« »Nein, die habe ich nie gesehen.« »Ganz sicher?«

»Warum sollte ich Sie anlügen? Ich kenn die beiden nicht, ich habe auch schon alle anderen gefragt, aber hier kennt die keiner.«

»Wie können wir Ihren Chef erreichen?« »Ich habe keinen blassen Schimmer, wo der sich rumtreibt, wir haben ihn auf allen Nummern, die wir von ihm haben, zigmal versucht zu erreichen, aber keine Chance, der geht nicht ran.«

»Wie viele Nummern haben Sie denn von Ihrem Chef?« »Vier. Zweimal Handy, zweimal Festnetz. Warum?« »Würden Sie uns die Nummern bitte geben?« »Hier, alles schon vorbereitet.«

»Danke, sehr aufmerksam«, sagte Santos und steckte den Zettel ein. »Der Mercedes gehört Ihrem Chef?« »Hm. Das ist sein Kennzeichen. Der ist auch nicht abgeschlossen.«

»Das heißt, Sie haben ihn angefasst?« »Klar, warum?«

»Wegen Ihrer Fingerabdrücke. Die Spurensicherung wird welche von Ihnen nehmen. Sagen Sie, wie läuft das Geschäft?«

»Wir kriegen von der Wirtschaftskrise gar nichts mit. Alles wie gehabt. Der Chef hat seine Stammkunden, und er gewinnt immer wieder neue dazu. Wir mussten Anfang des Jahres sogar zwei Lkw dazukaufen und drei neue Leute einstellen.«

»Haben Sie in den letzten Tagen etwas an Ihrem Chef bemerkt, hat er sich anders verhalten als sonst, war er nervös ...«

»Nein, der war wie immer. Ich muss dazu sagen, dass er selten länger als drei oder vier Stunden in der Firma war, er hat kurze und knappe Anweisungen erteilt und ist wieder abgerauscht. So wie das aussieht, denke ich, er wurde entweder gekidnappt oder er wurde auch umgelegt«, sagte der Mann trocken.

»Schon möglich. Erst mal danke für Ihre Mithilfe. Wir brauchten dann noch eine Liste mit sämtlichen hier beschäftigten Personen mit Adresse und Telefonnummer.« »Die hat der Chef in seinem Büro, aber Frau Kubaschenko, seine Sekretärin, hat Zugang zu den Akten.« »Wo ist die Dame?«

»Drinnen, sie will sich das hier nicht antun. Die hat vorhin schon die ganze Zeit rumgeheult.« »Was bedeutet das RK am Kennzeichen des Mercedes?« »Das sind die Initialen vom Chef, Robert Klein.« »Hm, ich dachte, Ihr Boss heißt Drexler.« »Schon ewig nicht mehr. Als der alte Drexler gestorben ist, sollte sein Sohn die Spedition übernehmen, aber bevor es dazu kam, hatte er einen Autounfall.« »Er ist tot?« »Hm.«

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?« »Über dreißig Jahre.«

»Wie kam es, dass Herr Klein die Firma übernommen hat?«

»Er und der Alte waren wohl befreundet und ...« Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, der Chef hat auch nie darüber gesprochen. Er war eines Tages da, hat gemeint, er sei der neue Direktor der Firma, alle Mitarbeiter würden selbstverständlich übernommen, der Name Drexler International Transports würde beibehalten und so weiter.« »Kommen Sie gut mit Klein aus?«

»Geht so, der Alte war besser drauf. Wenn Klein einen schlechten Tag erwischt, geht's schon mal hoch her. Aber man gewöhnt sich an alles.«

»Gut, das war's fürs Erste. Halten Sie sich bitte weiterhin zu unserer Verfügung. Informieren Sie sämtliche Mitarbeiter, dass sie vorläufig nicht mit der Presse sprechen sollen.«

Die Spurensicherung war bereits eingetroffen, wenig später fuhr Professor Jürgens vor. Der Fotograf schoss eine ganze Serie von Fotos, sowohl von den Toten als auch vom Gelände und den Blutspuren auf dem Asphalt. Während Santos weitere Mitarbeiter der Spedition befragte, unterhielt sich Henning mit Jürgens, der auf die Ladefläche gesprungen war und sich dort in die Hocke begab, um die Toten zu begutachten.

Leise sagte Henning zu ihm: »Dachte nicht, dass wir uns so schnell wiedersehen würden. Ich wette mit dir um drei Runden Whiskey, dass wir es hier mit demselben Täter zu tun haben wie bei Bruhns. Hältst du mit?« »Nee, weil ich verlieren würde«, antwortete Jürgens genauso leise.

»Wie lange sind sie schon tot?«

»Kannst du nicht mal deiner Ungeduld sagen, dass sie sich bitte ein wenig zügeln möchte?«

»Das hat nichts mit Ungeduld zu tun, für uns zählt jede Sekunde.«

»Warum?«

»Nur so ein Gefühl. Bruhns und das hier ist eine Baustelle. Deshalb.«

»Hatten wir schon. Du fürchtest Rüter. Zu Recht. Jetzt lass mich machen.«

Jürgens nahm eine erste Leichenschau vor und sagte schließlich: »Circa zwölf Stunden, plus minus eine Stunde. Genaueres nach der Obduktion. Die Leichenstarre ist bei beiden vollständig ausgebildet. Der hier«, Jürgens deutete auf den Rechten, »ist mit dem Kopf auf den Asphalt geschlagen, und zwar nicht aus dem Stand, sondern von weiter oben. Ich würde sagen, er wurde entweder in der Fahrerkabine erschossen und ist dort rausgefallen, oder er stand hier oben und ist runtergeknallt. Kennst du einen von den beiden oder beide?« »Nie gesehen.«

»Haben die für die Spedition gearbeitet?«

»Wenn ich das richtig mitbekommen habe, sind sie hier völlig unbekannt.«

»Und der Boss?«

»Spurlos verschwunden. Hier nebendran steht sein Benz.« »Pass auf, wenn mir niemand dazwischenfunkt, kriegt ihr das Obduktionsergebnis noch heute. Hast du mich verstanden?«, flüsterte Jürgens.

»Verstanden. Lisa und ich sind fast fertig, wir brauchen nur noch die Personalakten der Angestellten. Danke für deine Hilfe.«

 

Wenig später betraten Henning und Santos das Speditionsbüro, wo sie eine verweinte junge Frau hinter dem Schreibtisch vorfanden. Das Namensschild der attraktiven Frau Ende zwanzig stand nicht zu übersehen auf dem Schreibtisch: Anna Kubaschenko. Sie blickte die Kommissare aus roten Augen an und sagte mit stockender Stimme: »Sie sind von der Polizei?« »Mein Name ist Santos, das ist mein Kollege Herr Henning. Wir haben ein paar Fragen an Sie, Frau Kubaschenko. Wann haben Sie Herrn Klein zum letzten Mal gesehen?«

»Gestern Vormittag war er im Büro, hat ein paar Telefonate geführt und ist wieder gegangen. Vorher hat er mir noch ein paar Auftragszettel auf den Tisch gelegt.« »Er kam immer allein?« »Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen?« »Nun, da draußen liegen zwei Männer, die niemand kennt und ...«

»Ich kenne sie auch nicht, ich habe diese Männer noch nie zuvor gesehen.«

»Ist Herr Klein verheiratet?«

»Nein, ich glaube, er war auch nie verheiratet. Er hat nie darüber gesprochen.«

»Wie lange sind Sie schon für die Spedition tätig, Frau Kubaschenko?«, sagte Santos. »Seit sieben Jahren.« »Sie sind Russin?«

»Deutsch-Russin. Meine Vorfahren waren Deutsche, aber ich lebe schon seit 1991 in Kiel.«

»Wie alt waren Sie da?«, fragte Henning.

»Zehn.«

»Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Herrn Klein?« »Ja, auf jeden Fall. Er ist immer nett und freundlich, ein echter Gentleman, wie man sie nur noch selten findet.« So wie sie redet, ist sie in ihn verliebt, aber er will nichts von ihr, dachte Santos. Ihre Augen leuchten, wenn sie von ihm spricht ... Ja, sie liebt ihn, aber ihre Liebe wird nicht erwidert.

»Gab es in den letzten Tagen oder Wochen irgendwelche besonderen Vorkommnisse?« »Was meinen Sie damit?«

»Anrufe, bei denen sich der Anrufer nicht zu erkennen gegeben hat, Drohungen gegen Herrn Klein oder die Firma. Wirkte Ihr Chef auf Sie anders als sonst? Nervöser, aufgeregter, war er schneller aufgebracht oder war er eher in sich gekehrt? Jede Information könnte uns weiterhelfen. Denken Sie gut nach.«

Sie überlegte und sagte: »Mir fällt nichts ein. Er war wie immer, und es gab auch nichts Besorgniserregendes. Drohungen, nein. Ich wüsste auch nicht, dass er Feinde hat. Herr Klein hat mir gestern sogar einen Blumenstrauß mitgebracht, weil ich gestern vor genau sieben Jahren hier angefangen habe. Er hat bis jetzt nie einen Geburtstag vergessen, ganz gleich, ob meinen oder den eines Lagerarbeiters. Er ist ein guter und aufmerksamer Chef.« »Sören, würdest du mich bitte für einen Moment mit Frau Kubaschenko allein lassen?«

»Vergiss die Akten nicht«, sagte Henning, während er wieder nach draußen ging und die Tür hinter sich schloss. »Ich will nicht indiskret erscheinen«, sagte Santos, »aber ich habe den Eindruck, dass zwischen Ihnen und Herrn Klein mehr ist als nur ein reines Arbeitsverhältnis. Sie können es mir ruhig sagen, wir würden es so oder so rausfinden.«

Anna Kubaschenko lief rot an, senkte den Blick und antwortete: »Nein, da ist nicht mehr, aber ich finde ihn sehr nett und denke, er brauchte eine Frau.« »Dabei denken Sie an sich?«

»Ich habe bisher noch keinen Mann kennengelernt, der nicht nur gut aussieht, sondern auch so gute Manieren hat und immer höflich ist. Ja, ich wünsche mir, er würde genauso für mich empfinden wie ich für ihn, aber das wird wohl niemals so sein. Schon als ich hier angefangen habe, war ...« Sie vollendete den Satz nicht.

»Haben Sie ihn je mit einer Frau gesehen?«

»Nein, und ich weiß auch, dass es keine Frau in seinem Leben gibt.«

»Könnte es sein, dass er sich nichts aus Frauen macht?« »Nein, das hätte ich schon längst gespürt. Ich kann Ihnen sofort sagen, ob jemand schwul ist. Bitte, finden Sie ihn, ich habe Angst, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.«

»Sollte ihm etwas zugestoßen sein, was wir nicht hoffen, wer würde dann die Spedition weiterführen?« »Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen, und ich will auch nicht darüber nachdenken. Bitte gehen Sie und lassen Sie mich allein.«

»Gleich. Die Firma heißt Drexler International Transports. Was darf ich mir darunter vorstellen? Wohin liefern Sie Ware beziehungsweise woher holen Sie Ware?« »Wir fahren hauptsächlich in den Osten, Polen, die baltischen Staaten, Russland, Ukraine, Rumänien, Bulgarien, aber auch nach Frankreich und Spanien.« »Aber die Ostrouten dominieren?« »Ja, auf jeden Fall.« »Welche Güter transportieren Sie?« »Elektrogeräte, Autoteile für die Autoproduktion, auch hochsensible Geräte wie erst vorige Woche für ein seismologisches Institut in Moskau. Außer Lebensmitteln und Gefahrgütern eigentlich alles.« »Danke, Sie haben mir sehr geholfen. Ich brauchte jetzt noch eine Liste mit den Namen, Adressen und Telefonnummern sämtlicher Angestellter sowie eine Liste Ihrer Kunden und Vertragspartner.«

»Benötigen Sie dafür nicht einen richterlichen Beschluss?«

»Oh, Sie kennen sich aus. Nein, bei Gefahr im Verzug brauche ich keinen richterlichen Beschluss. Wenn Sie mir die Unterlagen bitte aushändigen würden, Sie bekommen sie natürlich zurück. Ach ja, wie mir bereits mitgeteilt wurde, hat Herr Klein zwei Handy- und zwei Festnetznummern. Hat er auch zwei Wohnsitze?« »Er hat sogar mehrere Wohnsitze, er besitzt ein Penthouse in Kiel und eine Villa in Mönkeberg, die früher Herrn Drexler gehört hat. Die anderen Häuser sind im Ausland.«

»Das heißt, Herr Klein ist ein reicher Mann.« »Ja, kann man so sagen.«

»Würden Sie mir bitte die Adressen vom Penthouse und dem Haus in Mönkeberg geben?«

»Natürlich«, sagte Anna Kubaschenko und notierte die Adressen auf einem Blatt Papier, das sie über den Tisch schob.

»Ist Herr Bruhns jemals hier gewesen?«

»Sie meinen den Herrn Bruhns, der ermordet wurde?«

»Ja.«

»Nein, warum hätte der hierherkommen sollen?« »War nur eine Frage. Vergessen Sie sie gleich wieder.« »Hier sind die Unterlagen. Bitte, behandeln Sie sie vertraulich und geben Sie sie mir so bald wie möglich zurück. Normalerweise darf ich sie nicht aus der Hand geben.« »Kann ich verstehen. Wir machen uns Kopien, und entweder heute Nachmittag oder morgen früh haben Sie sie wieder.«

»Werden Sie ihn finden?«

»Wir finden ihn, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« »Hoffentlich lebendig.«

»Ja, hoffentlich. Denken Sie positiv«, sagte Santos und dachte, was für ein dummes Geschwätz. Der Mann ist tot, aber er wurde nicht hier umgebracht. »Ich danke Ihnen und melde mich schnellstmöglich. Ein kleiner Tipp noch: So hübsch, wie Sie sind, könnten Sie an jedem Finger zehn Männer haben. Warten Sie nicht auf ein Zeichen von Herrn Klein, es gibt auch noch andere.« »Es ist nicht einfach, die Liebe loszulassen.« »Sie sollen die Liebe nicht loslassen, sondern nur den Mann. Sie arbeiten seit sieben Jahren für ihn, und er hat bisher, wenn ich Sie recht verstanden habe, noch keinerlei Anstalten gemacht, Sie zu umwerben. Er wird es auch in Zukunft nicht tun.« Und als sie an der Tür war: »Ich bitte Sie, nicht mit der Presse zu sprechen, es würde unsere Ermittlungen nur unnötig behindern.« Anna Kubaschenko zuckte die Schultern, Tränen liefen ihr wieder über das Gesicht. Santos verabschiedete sich von ihr, drehte sich um und ging zu Henning, der ungeduldig auf sie wartete.

»Warum hat denn das so lange gedauert?«, fragte er, während sie zum Auto gingen.

»Die ist bis über beide Ohren in Klein verliebt, was aber nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Wenn sie so weitermacht, endet sie noch als alte Jungfer, ohne jemals einen Mann gehabt zu haben.« »Mann, so hübsch, wie die ist ...«

»Sören, hier spielt die Musik«, sagte Santos lächelnd und deutete auf sich.

»Ich bitte dich, ich darf doch wohl sagen, wenn eine Frau hübsch ist. Sie ist nicht mein Typ, reicht dir das?« »Wie sieht dein Typ denn aus?«

»Dunkle Haare, braune Augen, südländischer Typ, freches Mundwerk ...«

»Das Letzte nimmst du sofort zurück.« »Lisa, wir haben keine Zeit zum Scherzen. Volker hat gerade angerufen, Rüter stand schon wieder bei ihm auf der Matte. Du weißt, was das heißt.«

»Damit war zu rechnen. Aber wir ziehen unser Ding jetzt durch. Rüter kann mich mal.«

»Du kommst nicht an ihm vorbei, er hat das letzte Wort.«

»Das werden wir sehen.«

 

Eisige Naehe
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